Flächensparender Vorrang von Strassenbahnen und Bussen

Henning Krug
veröffentlicht in: Planerin 2/00, S.61-63

Abbildung: Untersuchungsstraßen in Halle (Saale) [4.232 KB]

GVFG-Anwendung versus Flächeneffizienz

§ 2 I Nr.2a des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) macht den “besonderen Bahnkörper” zur Bedingung für die Förderung von Maßnahmen an Straßenbahnstrecken. Landläufig interpretiert als “abgesonderte”, also getrennte Straßenbahnflächen kommt dies den Interessen der Betreiber an einem einfachen Management entgegen. Ebenso offensichtlich ist jedoch auch, dass diese Vorgabe in städtischen Straßenräumen immer zu Lasten anderer Nutzungsansprüche geht, mit z. T. gravierenden städtebaulichen oder verkehrlichen Nachteilen; z. B. den Verzicht auf Radwege oder Parkmöglichkeiten, den Verlust von Alleen, Vorgärten oder Baugrund und/ oder schmale Restflächen für Fußgänger und Aufenthalt. Der prinzipielle Anspruch auf eigene, getrennte Straßenbahnspuren ist im Grunde paradox, denn er stellt einen der wichtigsten Gründe für ÖV-Förderung und -Vorrang in Frage: den sparsameren Umgang mit knappen Flächen. Dieser Effizienzvorteil gegenüber dem MIV ist auf ÖV-Spuren mit Fahrzeugfolgezeiten von mehreren Minuten nicht mehr gegeben.

Die aktuelle Diskussion dieser Problematik bezieht sich vornehmlich auf die Straßenbahn, sie betrifft jedoch alle Formen eines attraktiven Massenverkehrs, also auch den Bus.

Modellprojekt Halle (Saale)

Im Auftrag des Ministeriums für Wohnungswesen, Städtebau und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt sowie der Stadt Halle (Saale) wird gegenwärtig untersucht, welche städtebaulichen und verkehrlichen Möglichkeiten die heutige Verkehrserfassungs- und -steuerungstechnik bietet, wenn man auf Fahrspuren mit 10 oder auch 20 Straßenbahnen pro Stunde hinter einer Straßenbahn gerade soviel MIV herfahren lässt, dass die nächstfolgende Straßenbahn noch nicht gestört wird. Die Ergebnisse der Vorstudie liegen seit November 1999 vor. Sie werden im Folgenden in kurzen Auszügen dargestellt.

Grundlagen eines störungsfreien ÖV-Ablaufs

Führung auf Hauptverkehrsstraßen

Die Anforderungen an innerörtliche Straßenbahnstrecken sind weitgehend deckungsgleich mit den klassischen Eigenschaften von innerstädtischen Hauptverkehrsstraßen im Hinblick auf Priorisierung, geradlinige Streckenführung, Immissionsbelastung, Öffentlichkeitsanspruch und Erschließungstiefe. Ein zügiger Fahrtablauf im ÖV ist daher in der Regel nur auf Hauptverkehrsstraßen möglich. Eine Ausweichstrategie der Führung des ÖV durch für den allgemeinen Verkehr entwidmete Nebenstraßen oder auf eigenen, anbau-freien Trassen erzeugt daher meist größere städtebauliche und verkehrliche Probleme, als sie zu lösen vermag.

Vorrang an Lichtsignalanlagen

Dass den ÖV-Fahrzeugen an lichtsignalgeregelten Knotenpunkten durch LSA-Beeinflussung Vorrang vor dem MIV einzuräumen ist, kann in der Fachwelt mittlerweile als allgemein anerkannt gelten. Gleichzeitig muß aber gesehen werden, daß in der Verwirklichung noch erhebliche Defizite bestehen. Das Prinzip stößt außerdem bei zu dichter Fahrzeugfolge an Grenzen. Für das hier diskutierte Prinzip der Pulkführung (siehe unten) ist die Vorrangschaltung an Lichtsignalanlagen in gleicher Weise von Bedeutung.

Staumanagement und Stauvorbeifahrt

Unumstritten ist, dass die Anlage separater ÖV-Spuren dort notwendig ist, wo im MIV Überlastungserscheinungen auftreten können. Der Umkehrschluss ist dagegen umstritten. Die Frage, ob sich sicher stellen lässt, dass auf bestimmten Strecken Stau ausgeschlossen werden kann, kann derzeit noch nicht auf der Basis einer aussagekräftigen Theorie über den städtischen Stau behandelt werden. Die durchaus beobachtbaren Regelhaftigkeiten lassen jedoch folgende Hypothesen plausibel erscheinen: Mittelfristig regelt sich der Stau einer Stadt auf einem relativ stabilen Niveau. Darin drückt sich im wesentlichen die begrenzte Bereitschaft der Autofahrer aus, Verzögerungen in Kauf zu nehmen. Die Grenze dieser “Stautoleranz” liegt in der Regel bei 10 bis 30 % der Fläche des Hauptstraßennetzes einer Stadt. Eine Trennung von ÖV und MIV aus Gründen der “Stauvorbeifahrt” ist demnach in der Regel nur auf ca. 20 bis 40 % des Hauptstraßennetzes erforderlich. Welche Strecken dies sind, ist als Funktion der relativen Leistungsfähigkeiten der einzelnen signalgeregelten Knoten in gewissem Umfang disponibel. Die notwendigen Wartebereiche und ÖV-Überholstrecken müssen entsprechend räumlich verteilt und dimensioniert und die Staulängen durch Zu- bzw. Ablaufdosierung auf diese Streckenabschnitte begrenzt werden.

Pulkführung durch das ÖV-Fahrzeug

Neben dem kapazitätsbedingten Stau gibt es weitere Faktoren, die den ÖV-Fahrtablauf beeinträchtigen können. Sie resultieren aus den Unregelmäßigkeiten des Fahrtablaufs im MIV und der Erschließungsfunktion einer Haupverkehrsstraße für die angrenzenden Grundstücke und Quartiere. Wesentliches Element der Störungsminimierung im Mischverkehr ist daher die Pulkführung durch das ÖV-Fahrzeug (näher erläutert als “zeitliche Trennung” in den EAHV 93, Kap. 4.2.7.2, sowie als “Dynamische Straßenraumfreigabe” bei Schnüll 1995). Dabei wird der Einfluß von Verzögerungen im MIV auf das nachfolgende ÖV-Fahrzeug durch einen Zeitpuffer minimiert. Dieser Zeitpuffer entsteht im Mischverkehr automatisch durch die Pfropfenwirkung der an der Haltestelle stehenden Straßenbahn (ca. 20-30 Sekunden). Dafür ist eine feine Abstimmung von Haltestelle (Lage, Art, Dauer), LSA-Steuerung an nahe gelegenen Knoten, Erschließungsfunktion des Straßenabschnitts und Länge der Mischverkehrsstrecke nötig.

Geeignete Querschnitte

Neben der Pulkführung muß die richtige Querschnittsausbildung der Mischverkehrsstrecken das Störungsrisiko für den ÖV weiter verringern. Ein Teil der gewonnenen Flächen sollte je nach Situation investiert werden in:

  • Mittelstreifen zwischen den Richtungsfahrbahnen zur Nutzung als Wartefläche für Linksab- und -einbieger sowie querende Fußgänger,
  • überbreite Fahrspuren und Gleismittenlage in der Richtungsfahrbahn für Sicherheitsabstände der Straßenbahn zu Störeinflüssen am Fahrbahnrand und
  • breite fahrbahnseitige Radwege/ Radstreifen als zusätzlicher Pufferstreifen und für ausreichende Überholbreiten für Rettungsdienste, Baustellen, Unfälle etc.

    Planungsvorschläge für Halle (Saale)

    Die genannten Vorüberlegungen zu Straßenentwurf und Verkehrsmanagement wurden in Halle (Saale) für vier Untersuchungsstraßen konkretisiert (Abbildung als pdf-file, ca.350 kb). Die untersuchten Straßen liegen weitgehend in gründerzeitlichen Stadtgebieten, deren städtebaulicher Charakter relativ starke Vorgaben für Geometrie und Symmetrie von Straße und Alleeanordnung macht. Die prognostizierten Verkehrsbelastungen liegen zwischen 5.000 und 26.000 Kfz DTV sowie 6 bis 15 ÖV-Bedienungen pro Stunde und Richtung.
     

    Untersuchungsergebnisse

    Das vorgeschlagene Konzept einer abschnittsweisen gemeinsamen Führung von MIV und ÖV ermöglicht einen höheren Flächenwirkungsgrad (Verkehrsleistung pro Fläche) als die prinzipielle Trennung beider Verkehrsarten. Dabei wird man sich je nach städtebaulich-verkehrlicher Abwägung im Einzelfall für mehr Verkehrsleistung, mehr Freifläche, bessere Radwege, bessere Andienung, breitere Gehwege und/ oder für geringere Straßenraumbreiten und Kosten entscheiden.

    Städtebau

    Städtebauliche Vorteile ergeben sich aus der absoluten Einsparung von Verkehrsflächen sowie aus den Möglichkeiten, den verbleibenden Verkehrsflächenbedarf flexibler und in höherem Maß nach städtebaulichen Kriterien (Raumfolgen, Sichtbeziehung, Denkmalschutz, Alleeachsen u. a.) räumlich anzuordnen. Insgesamt wird eine urbane und im Erscheinungsbild etwas weniger verkehrsdominierte Konzeption verfolgt. Dies trägt entscheidend zur Attraktivitätssteigerung der Stadt bei und ist die Grundvoraussetzung für dauerhaft hohe Fahrgastzahlen an den Haltestellen eines leistungsfähigen ÖV-Netzes. Damit wird die Nutzung der entstehenden Freiheiten für städtebauliche Verbesserungen zu einem wichtigen Faktor der ÖV-Förderung.

    Fußgänger und Radfahrer

    In Teilabschnitten mit Mischverkehr können breitere Bürgersteige und/ oder Radwege angeboten werden. Den Fußgängern kommt zugute, dass die schmaleren Fahrbahnquerschnitte an LSA-Knoten kürzere Querungszeiten und damit tendenziell kürzere Umlaufzeiten und Wartezeiten ermöglichen. Außerdem bieten die vorgeschlagenen Mittelstreifen für querende Fußgänger eine erhebliche höhere objektive Sicherheit als ein eigener Gleiskörper.

    Motorisierter Individualverkehr

    Auch für den MIV können Vorteile gegenüber der prinzipiellen Trennung von ÖV und MIV realisiert werden. Die erhebliche Reduzierung der Querschnitte erleichtert die Anordnung von Längsparkstreifen oder Lade- und Lieferzonen am Fahrbahnrand. Die Linksabbieger-Problematik (besondere Linksabbiegespuren, extra Signalisierung oder Linksabbiegeverbote) entschärft sich bei Mischverkehr mit Mittelstreifen erheblich. Mischverkehr in der Zufahrt der für die Netzleistungsfähigkeit entscheidenden Knotenpunkte ermöglicht zusätzliche Fahrspuren bei gleicher Fläche und somit tendenziell höhere Netzleistungsfähigkeiten. Wird die Überlagerung nicht für zusätzliche Fahrspuren genutzt, können die kürzeren Fußgängerfurten und insgesamt kompakteren Knoten dennoch Leistungsvorteile bewirken – zumindest jedenfalls die Leistungsnachteile durch die Koordination der Knoten und durch den ÖV-Anteil im MIV-Strom ausgleichen.

    Öffentlicher Verkehr

    In den untersuchten Straßen wurden alle Haltestellen als Bürgersteighaltestellen (Kap-Haltestelle) ausgebildet. Dies wird als einer der entscheidenden Vorteile der abschnittsweisen gemeinsamen Führung von MIV und ÖV angesehen. Die Nutzung von Geschäften und Schaufenstern an der Haltestelle kann die reale Wartezeit erheblich verkürzen. Die höhere Aufenthaltsqualität auf dem Bürgersteig, der bei Mischverkehr ohne Haltestelleninsel 4 bis 6 m breiter sein kann, verkürzt zusätzlich die empfundene Wartezeit. Zudem erreicht die Hälfte der Fahrgäste den Zustieg ohne zusätzliche Fahrbahnquerung und dadurch bedingte Zeitverluste.

    Im Hinblick auf Beförderungsgeschwindigkeit und Reisezeit sowie Zuverlässigkeit und Fahrplantreue von Straßenbahnen und Bussen kann davon ausgegangen werden, daß sich bei richtiger Organisation keine signifikanten Unterschiede in den ÖV-Reisegeschwindigkeiten im Vergleich zu einer prinzipiellen Trennung ergeben. Die schlechten empirischen Erfahrungen mit Mischverkehr können hier nicht als Gegenargument angeführt werden. Sie basieren meist auf Straßen, die weder im Sinne der "dynamischen Straßenraumfreigabe" entworfen noch entsprechend gesteuert wurden. Die wenigen bisherigen Untersuchungen über Streckenabschnitte, in denen Teile des vorgeschlagenen Konzeptes realisiert wurden (in der Regel die Pulkführung, selten das Staumanagement oder die vorgeschlagenen Querschnitte) lassen eher eine positive Einschätzung zu (siehe Schnüll 1995).

    Einsatzbereiche

    Es besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß Mischverkehr von MIV und ÖV besondere Kapazitätsgrenzen habe, die ihn auf schwächer belastete Straßen beschränken. Für die MIV-Leistungsfähigkeit bleiben die Grünzeiten und die Anzahl der Fahrspuren vor dem Knotenpunkt maßgeblich. Mit zwei (bzw. einer überbreiten) Geradeausspur(en) pro Richtung plus Links- und gegebenenfalls Rechtsabbiegespuren sind auch noch ca. 4.000 Kfz pro Stunde und Richtung durchaus möglich. Selbst mehr als zwei Geradeausspuren sind denkbar. Dass dann einzelne Pkw das ÖV-Fahrzeug während der Fahrt überholen, erscheint tolerierbar. Entscheidend ist die Wartezeit-Koordinierung von ÖV und MIV - ggf. per Zusatzsignal - an der Haltestelle.

    Im ÖV stößt die Bevorrechtigung bei Fahrzeugfolgezeiten von unter 3 bis 4 Minuten an ihre Grenzen – auch bei eigenem Gleiskörper. Da solche Takte auch für den Fahrgast keine Verbesserung mehr bringen, sollten sie generell vermieden werden, durch größere Fahrzeuge oder zusätzliche Parallelstrecken.

    Schlussfolgerung

    Die Ergebnisse der vorgestellten Vorstudie bestätigen, dass sich die Trennung von MIV und Strassenbahn nicht als prinzipielles Förderkriterium für Straßenbahnstrecken eignet. Auch die Forderung, Ausnahmen vom Regelfall der Trennung bereitwilliger nach GVFG zu fördern, greift demnach zu kurz. Bei Einsatz moderner Verkehrssteuerungstechnik lassen sich die Ziele der Förderung mit einer abschnittsweisen gemeinsamen Führung von ÖV und MIV besser erreichen. Dies sollte in eine modifizierte Auslegung oder Änderung der rechtlichen Grundlagen der Förderung einfließen.
     

    Literatur

  • Arnold, S. u.a (1996): Verkehrskonzept Friedberger Landstraße. (= UPI-Bericht Nr. 38)
  • Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) (1993): Empfehlungen für die Anlage von Hauptverkehrsstraßen EAHV
  • Schnüll, R./ Albers, A. (1995): Dynamische Straßenraumfreigabe für Straßenbahne/ Stadtbahnen. Hannover
  • v. Winning & Partner (1999): Flächensparender ÖPNV-Vorrang zur städtebaulichen Aufwertung von Hauptverkehrsstraßen, Beispiel Halle (Saale). Kassel

    Dipl.-Geogr. Henning Krug ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Integrierte Verkehrsplanung der Universität Gesamthochschule Kassel sowie Büroleiter des Planungsbüros von Winning & Partner GbR, Kassel.