Autofreie Stadtquartiere oder Befreiung vom Autozwang?

Zur Notwendigkeit von Verkehrspolitik

Hans-Henning von Winning,

Januar 1999

Daß "weniger Auto" in vieler Hinsicht für gesellschaftlichen Fortschritt unabdingbar ist, wurde vielfach diskutiert und nachgewiesen. Im folgenden sollen einige Anregungen gegeben werden, wie das "Autofreie Leben" zu diesem Fortschritt beitragen kann.

1. Das Autosystem verteilt seine Kosten und Lasten unökonomisch, unökologisch, unsozial und undemokratisch1)

Das Autosystem belastet die Volkswirtschaft jährlich mit etwa 650 Mrd. DM. Die "Altschulden" aus dem Bestand der Fernstraßen entsprechen in etwa der Gesamtheit aller öffentlichen Schulden. Fahrer und Halter zahlen nur etwa ein Drittel der Kosten; zwei Drittel werden über Steuern, Kranken- und Rentenversicherungen, Mieten und Abgaben verschleiert, erhöht, und räumlich, zeitlich, sachlich und sozial umverteilt. Davon ist die Fehlverteilung durch die Stellplatzverpflichtung nur ein Bruchteil von vielleicht 5 %. Die Verschleierung der Preise führt zu Übernachfrage - insbesondere da, wo es besonders teuer und schädlich ist: in den Städten und im Hochgeschwindigkeitsbereich.

2. Stadtquartiere mit geringen Autostörungen sind seit Jahrhunderten europäischer Städtebaustandard

Charakteristische Beispiele sind mittelalterliche Stadtgrundrisse, Blockbebauungen aus der Jahrhundertwende und den zwanziger Jahren; Großsiedlungen wie Dresden-Gorbitz oder München/Olympiadorf, oder auch Einfamilienhausquartiere unterschiedlicher Erschließungsformen. Sie unterscheiden sich stark im Maß der Störung von Wohnung und Umfeld, im Maß der Verlagerung ihrer Autonutzung, sowie im Maß der Eignung für Autonutzung bzw. Autofreiheit. Die städtebauliche Form allein kann allerdings zur Autofreiheit kaum beitragen. Die größten Potentiale für geringste Störungen bieten dichte, gemischte Stadt- und Dorfquartiere mit vernetzten öffentlichen Straßenräumen 2).

3. Selbstverpflichtung zur Autofreiheit: chancenreich, risikoreich, rechtlich kaum faßbar, politikabhängig.

Derzeit erspart der Autoverzicht mobilen Singles vor Allem Zeit: Für Arbeit oder Entspannung in Bus und Bahn. Aber es kann im Lebenszyklus örtlich, zeitlich, sachlich oder sozial Situationen geben, bei den Autoverzicht große, ja unzumutbare Opfer verlangt - schon bei heutigen politischen Randbedingungen, und vielleicht umsomehr, wenn unsere Gesetze noch hemmungsloser die Autobenutzung fördern. Daher rühren die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Selbstverpflichtung zum Autoverzicht. Dazu kommen nicht lösbare Definitionsfragen (Halter, Fahrer, Mitnützer, Miet- oder Leasing-Nehmer eines/ mehrerer Fahrzeuge? Anwohner, Erst-/Zweitwohnsitz, Wohnungsmieter, -eigentümer,
-vermieter, Mitbewohner Familie/ WG/ Besucher?).

4. Autopolitik I: Befreiung vom Zwang zur Teilnahme. Kostentransparenz und Kostenzurechnung 3)

In Bundes-, Landes-, Kreis- und Kommunalhaushalten gehören Titel "Ausgaben für Nicht-Erschließungsstraßen" und Parkplätze einschließlich Verzinsungen und Abschreibungen  des gesamten Bestandes zu marktgängigen Neubaupreisen und Zinsen. Krankenkassen- und Rentenbeiträge sollen den autobedingten Anteil gesondert ausweisen. Schließlich sind die Umweltkosten als "verschenktes" Gemeingut ebenfalls als Defizit rechnerisch zu deklarieren.

Die beste Zurechnung würde über differenzierte Straßenbenutzungsgebühren erfolgen; automatisch, satellitengestützt, datengeschützt, nach Raum und Straßentyp unterschiedlich.

5. Autopolitik II: Kultivierung des Restautoverkehrs, Kostendämpfung, Konkurrenzfreiheit, Optimierung 3)

Wie groß immer der Restautoverkehr sein wird - es muß daran gearbeitet werden, ihn so verträglich und wirtschaftlich wie möglich abzuwickeln. Zentral dafür ist die Abregelung der Konkurrenz zwischen den Verkehrsteilnehmern. Das bedeutet gestaffelte Tempolimits, begrenzte und standardisierte Beschleunigungen durch Begrenzer in den Fahrzeugen sowie allgemeines Überholverbot. Das ökologisch optimierte Auto ist dann nicht klein, schwer und schnell, sondern groß, leicht und langsam.

6. Schlußfolgerung: "Autofrei Leben" als politische Befreiungsbewegung

Die Autogesellschaft ist nicht ein beliebiger Lebensstil der zweiten Moderne, sondern hochrestriktiv politisch durchgesetzt und erhalten. Ebensowenig ist "Autofreiheit" eine weitere Marotte einer mittellosen Gesellschaft, die sich skurrilen Selbstbeschränkungen unterwirft. Autofrei Leben entsteht nicht durch zusätzliche Zwänge, sondern erfordert Befreiung von Zwängen. Ohne Änderung der Randbedingungen wird autofrei Leben luxuriöse Nische bleiben. Die Befreiung vom Autozwang dagegen wird entsprechende Lebensstile und Stadtquartiere zur Normalität machen.

1)     Winning, H.-H. v."Zeit, Geschwindigkeit, Verkehr - Bausteine einer Verkehrsreform" in:"Widerspruch", Heft 36, Zürich 1998

2)      Winning, H.-H. v: Straßenverkehrserschließung von Neubaugebieten. In: Apel,D. u.a: Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung, 5/ 1998

3)     Winning, H.-H. v: Nachhaltigkeit und Effizienz - Aktuelle Beiträge zur Verkehrplanung. Kassel, 1997