Einige Thesen zum Reformbedarf
Entwurf für eine marktwirtschaftlich orientierte Verkehrs- und Wirtschaftspolitik
Hans-Henning von Winning
25.11.2000
1. Zur Notwendigkeit einer Verkehrsreform
Die politischen Rahmenbedingungen des Transportwesens führen in nahezu allen Industrieländern zu Widersprüchen zu allen wichtigen konsensfähigen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen: Anstelle wachsenden Wohlstands produziert Transport zunehmend Kosten und Schäden; anstelle wachsender Mobilität, Diversifizierung, und Emanzipation produziert Transport immer weniger Erreichbarkeit, Vielfalt sowie zunehmende Abhängigkeiten; anstelle Nachhaltigkeit produziert Transport zunehmende zukünftige Risiken und Instabilitäten im Hinblick auf soziale, ökonomische und ökologische Bedingungen.
Hierfür gibt es vielfältige wissenschaftliche Belege. Wissenschaftlicher Nachholbedarf besteht allenfalls bei der These sinkender Mobilität bei wachsendem Verkehr; sie begründet sich aus der überproportionalen Verringerung der Erreichbarkeiten in Nahmobilität und effizientem Öffentlichem Verkehr, wenn die Siedlungsstruktur zugunsten von Verkehr und Verkehrsanlagen auseinanderrückt.
Mehrheiten scheinen diese Zusammenhänge aber offenbar anders zu sehen gleich, ob sie durch Wahlen oder durch sozialwissenschaftliche Analysen ermittelt wurden. Hierfür gibt es eine Reihe von Ursachen:
- Evolutionär und kulturhistorisch ist die Ortsveränderung zur Verbesserung der Lebensbedingungen äußerst tief geprägt.
- Gesellschaftliche Gleichwertigkeit und Kohäsion wird rechtlich und subjektiv von teilräumliche Kostentransfers und Preispauschalierungen erwartet.
- Unmittelbare Sinneseindrücke vermitteln keine brauchbaren Signale über Geschwindigkeit oder über Energie- oder Stoffentwertungen.
- Verlierer- und Gewinnergruppen wurden in 50 Jahren Systemstabilität so festgelegt, daß bei beiden ein Höchstmaß an Zufriedenheit mit ihrer Rolle erreicht ist.
- Mehrheiten scheinen zunächst generell weniger geeignet, Minderheiten zu schützen oder gar zu fördern sowie langfristige und abstraktere Planungen zu berücksichtigen.
Bisher orientierte sich die Organisation des Verkehrswesens entweder an Technikverbünden oder an Mehrheiten. Das Ergebnis ist eine Mischung von Partikularinteresse mit Irrationalität (vulgo: Bosheit und Dummheit) bei einem Höchstmaß an Zufriedenheit aller Akteure; damit gibt sich auch ein großer Teil der Wissenschaft zufrieden. Mobilität und Nachhaltigkeit erfordern dagegen eine Verkehrsreform, die kritische Rationalität zunächst zu ermitteln, und dann zu vermitteln sucht. Ersteres ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.
2. Technik und Markt als Rationalisierungsversuch
Damit rücken „objektive“, naturwissenschaftliche Zusammenhänge in den Vordergrund. Physikalische Meßgrößen eignen sich zur Analyse von Energie- und Stoffentwertungen; in der Theorie von Systemanalyse und Ökobilanz wird dabei der Faktor Zeit noch zu wenig berücksichtigt. Ähnlich wie in der ökonomischen Theorie scheint es angemessen, ökologische Verzinsungen und Abschreibungen miteinzurechnen: Früher verbrannte Energie wäre danach schädlicher; und ökonomische und ökologische Bewertungen weisen dann in die gleiche Richtung.
Ökonomische Analysen eignen sich zur rationalen Bewertung von Aufwand und Ertrag von Regelungen, Organisationsformen, Investitionen, über Kosten und Preise. Monetarisierungen ermöglichen sachliche, zeitliche und räumliche Vergleiche unterschiedlicher Nutzen und Schäden; im Verkehrswesen können sie auch weitgehend soziale und ökologische Kategorien darstellen. Die wichtigsten Eigenschaften wären dabei:
- Die Transparenz der Kosten ermöglicht Abschätzungen der Rentierlichkeit von Neuinvestitionen bei Vollkostenrechnung und von vorhandenen Investitionen bei Marginalkostenrechnung.
- Die Zahlungsbereitschaft der Verkehrsverbraucher drückt am zuverlässigsten die Dringlichkeit und sektorale wie teilräumliche Struktur der Verkehrsnachfrage aus.
- Die Konkurrenz verschiedener Anbieter sorgt für Innovation, Effizienz und Preisgünstigkeit der technischen Systeme und Organisationsformen.
Bis heute werden dagegen dieVerkehrskosten bis zur Unkenntlichkeit verschleiert, die Verkehrsnachfrage wird staatlich künstlich erhöht und verzerrt, und das Verkehrsangebot sperrt sich durch Technikmonopole gegen Veränderung und Effizienz. Diese Merkmale werden am besten durch den Begriff des „Stamokap“- Staatsmonopolkapitalismus beschrieben. Und das ändert sich auch dann nicht wenn die derzeitige Privatisierungswelle im Verkehrswesen nur die Kehrseiten der Privatwirtschaft realisiert, nämlich Aneignung gemeinschaftlicher Güter und noch hemmungslosere Ausplünderung sowieso schon Benachteiligter.
Stattdessen kann eine soziale und ökologische Marktwirtschaft im Verkehrswesen endlich auch bisher zu wenig beachtete Differenzierungen berücksichtigen, die über die Klischees „Bahn ist besser als Bus ist besser als Auto ist besser als Flugzeug“ hinausgehen, nämlich:
- Einbeziehung von Naherreichbarkeiten durch Städtebau
- Verzinsungen und Abschreibungen von „Infrastruktur“,
- UnterschiedlicheVerkehrseignung urbaner und suburbaner Siedlungsstruktur,
- Unterschiedliche Effizienz verschiedener Geschwindigkeitsbereiche.
Widersprüchlich bleibt hingegen die Verwendung der Einnahmen aus den Verkehrspreisen: Sie müßten teilweise als Rendite für Zins und Tilgung den Eigentümern der Verkehrsanlagen, nämlich den Gebietskörperschaften zufließen. Der Öko-Anteil dagegen sollte nicht in die gleiche Falle laufen wie die heutige Öko-Steuer, nämlich die Staatsorgane begehrlich auf Verschmutzung zu machen. Hier scheint ein direkter und automatisierter Rückfluß an alle Bürger oder Steuerzahler sinnvoller. Erwähnt werden muß, daß eine automatische Verwendung der Verkehrseinnahmen für zusätzlichen Verkehrsbau jede Marktsystematik völlig auf den Kopf stellen würde.
3. Einige Thesen zur zukünftigen Nachfrage
Eine solche Neuordnung stößt praktisch und theoretisch auf enorme Probleme. Einerseits sind eine Reihe von Fragen auch wissenschaftlich keineswegs zu Ende gedacht, und das Beharrungsvermögen der Gewinner kann kaum unterschätzt werden. Andererseits verspricht die Neuordnung einen enormen Freiheits-, Innovations- und Effizienzschub; dieser wird nicht nur Mittel zur Neuverteilung freisetzen, sondern auch die Verkehrsnachfrage endlich von Staatsideologie und Planerwillkür befreien. So kann nach einer breiten Forschungs-, Diskussions- und Öffentlichkeitsphase mit ganz breiter Akzeptanz gerechnet werden.
Eine zentrale Erkenntnis wird sein, daß generell und im Durchschnitt die Verkehrsteilnehmer nicht bereit sein werden, voll kostendeckende Preise zu bezahlen. Das heißt aber nichts anderes, daß unsere Verkehrssysteme bereits heute zu groß sind, daß kein generelles Wachstum gewünscht wird, und das die Managementaufgabe in der Optimierung eines Schrumpfungsprozesses besteht. Damit werden die Preise vor Allem für bestmögliche Auslastung der ja nun mal vorhandenen Infrastruktur festgelegt werden müssen
Sektoral, modal, zeitlich, räumlich und für die Regelwerke wird es außerdem deutliche Verschiebungen der Nachfrage geben; die hierfür notwendigen Angebote im organisatorischen, technischen und baulichen Bereich sollen im Folgenden mit einigen plausiblen Vermutungen zur Diskussion gestellt werden.
3.1 Schiene und ÖV
Effizient wäre eine bundes- und europaweite Netz-, Knoten-, Takt-, Tarif-, Informations- und Management-Integration unter Einschluß von Bus, Bahn Flugzeug, von Nah-, Regional-, Fernverkehr, sowie von Personen und Güterverkehr. Durchgehender ÖV-Vorrang auf der Straße durch Pulkführung und Staumanagement dürfte für einige Strecken höhere Qualitäten anbieten als die Schiene. Der mittlere Geschwindigkeitsbereich verspricht besten Wirkungsgrad für alle Systeme, also etwa 100 km/h auf der Straße, 160 km/h auf der Schiene und 500 km/h in der Luft.
Haltepunkte mit urbaner Siedlungsstruktur könnten und sollten mit höchsten Qualitäten sehr preisgünstig vernetzt werden. Disperse, suburbane Haltepunkte würden in die Zeit- und Flächendeckung einbezogen, jedoch entsprechend ihren höheren Kosten zu deutlich höheren Preisen, seltener und mit deutlich geringerem Standard.
Busse erhielten den Komfortstandard von PKW und durch telematikgestützten Vorrang die Zuverlässigkeit und Gleichmäßigkeit der Schiene. Die Schiene erhält einen Modernisierungsschub durch rechnergesteuerte Einzelradlenkung zur Minimierung von Lärm und Verschleiß; innovative Mischantriebe (z.B. gleisseitiger Langstator für Teilstrecken und modernste fahrzeugseitige Antriebe für Teilleistung) ermöglicht Streckenbegradigung und -verkürzung, kürzere Über- und Unterführungen, sowie Verzicht auf Oberleitungen.
Der Luftverkehr dürfte auch bei Vollkostenzurechnung wachsen: Geringe Vorabinvestitionen und extrem hohe Auslastung der teuren Systemteile sind Pluspunkte auch in einer ökologischen Gesamtrechnung. Notwendig wäre allerdings die Umweltoptimierung von Flughöhen, Fluggeschwindigkeiten, Flugzeuggrößen, sowie Emissionsstandards.
3.2 Straße und MIV
Die Kostenzurechnung im Straßenverkehr muß auch die unterschiedlichen Werte der Flächeninanspruchnahme berücksichtigen; diese sind aber in attraktiven urbanen Lagen ein Vielfaches der Baukosten. Eine derartige Spreizung der Preise ermöglicht nur ein flächendeckendes, alle Straßen und Parkplätze und alle Kraftfahrzeuge differenziert erfassendes datengeschütztes, UMTS/Galileo-basierendes Road- + Park-Pricing-System. Die Preise werden nicht kostendeckend sein können, aber auf Grund der vielfachen Attraktivität des MIV sehr hoch, wenn sie marktwirtschaftlich Überlastungen und freie Kapazitäten puffern sollen.
Damit wird die mehrheitliche Zustimmung für einen konkurrenzfreien Straßenverkehr wahrscheinlich: durch Abregelung aller für den Transport nicht notwendigen Dynamiken, durch standardisiert begrenzte Geschwindigkeiten und Beschleunigungen sowie allgemeines Überholverbot wird ein riesiges Potential für Downsizing von Straßen und Antrieben aktiviert. Verstetigung und Dämpfung der Betriebsabläufe wird Kosten und Schäden des PKW-Verkehrs in allen Bereichen sich etwa auf die Hälfte reduzieren. Konkurrenzfreier PKW-Verkehr wäre nicht nur die wirksamste Reform im gesamten Verkehrsbereich, sondern auch die einzig nennenswert erfolgversprechende Maßnahme für das PKW-System.
Voraussichtlich würde die Nachfrage nach Straßengüterverkehr nicht wesentlich geringer: wegen des fast gleich hohen Platzbedarfs des fahrenden PKW und der extrem hohen Kosten der PKW-Hochgeschwindigkeit ist die einseitige Fokussierung auf den LKW-bedingten Straßenabrieb nur begrenzt gerechtfertigt zumal dieser durch Verringerung der zulässigen Radlasten deutlich vermindert werden könnte. Mehr LKW, die auch ihre Umweltkosten zahlen, sind dann aber eben auch nicht unverträglicher und entsprechen der relativen Zahlungsbereitschaft der Verbraucher; somit gibt es kein legitimes Argument für ordnungspolitische Eingriffe.
3.3 Sonstige Transporttechniken
Daß Entfernung Aufwand bedeutet, muß prinzipiell auch bei anderen technischen Transportmitteln differenziert in den Preisen aufscheinen, damit Anbieter und Verbraucher die freie Wahl auch für effiziente, unaufwendige, billigere und nachhaltigere Lösungen haben. Wo immer Transportpreise pauschaliert oder verschleiert sind, werden die Verbraucher zuviel Transport verlangen und damit die Systeme im nicht effizienten Bereih betreiben lassen.
Das gilt für den Transport von Öl, Gas, Wasser oder Abwasser in Rohrleitungen; das gilt für Stromleitungen, und das gilt letztlich auch für die technische Übertragung von Informationen über Funk, über Kabel oder über Lichtleiter.
Bei allen diesen Techniken geht es nicht nur um die schiere Entfernung, sondern natürlich auch um die Unterscheidungen von Infrastruktur, Betrieb und Entsorgung, von Systemgeschwindigkeiten, spezifische Energie- und Flächenentwertungen, kritische Systemgrößen und andere Parameter.-Daß dies auf lokale, regionale oder globale Beziehungen Rückwirkungen haben wird,erscheint zweifelsfrei; differenziertere Folgenabschätzungen erfordern intensive technisch-räumliche Untersuchungen, deren Ergebnisse heute höchstens spekulativ angedeutet werden können
3.4 Siedlungsstruktur
Es ist denkbar, daß die Nachhaltigkeit und Effizienz der Verkehrsstrukturen maßgeblich für die Prägung von Siedlungsstrukturen wird. Dann wird sich zeigen, daß die Verknüpfung urbaner und suburbaner Siedlungen sowohl mit Individual als auch mit Massenverkehr die schlechteste, damit teuerste, und damit am wenigsten nachgefragte Relation sein wird. Dagegen wird die ÖV-Verknüpfung von Städtenetzen extrem günstig sein. Weitgehend getrennt davon kann auch noch ein „Autoland“ existieren: für Funktionen, Lebensphasen oder Lebensstile, die die Kosten und geringen Wahlmöglichkeiten eines kostendeckenden, halbwegs ökologisierten Autoverkehrs mit einem sozialen Mindeststandard an ÖV-Angebot wählt.
Voraussichtlich wird diese Nachfrage aber kleiner sein, als „Autoland“ heute schon existiert. Damit wird die entscheidende Schwelle bereits mit geringer Verschiebung überschritten: Die Neubaunachfrage wird sich völlig von der Dispersion auf die Nachverdichtung konzentrieren. Da allerdings bei schrumpfender Gesamtnachfrage in manchen Teilräumen das Nachverdichtungspotential insgesamt kaum ausreichen wird, um auch nur die Bahnhofsumfelder der zukunftsfähigen Schienenstrecken zu füllen, resultiert daraus eine höchst schwierige und konfliktträchtige politische und planerische Verteilungsaufgabe.
Wenig problematisch erscheint, daß die zentralörtlichen Hierarchien als Ziel der Regional- und Landesplanung entfallen es gibt ohnehin keine kulturell zurückgebliebene landwirtschaftlich geprägte Landbevölkerung mehr, der man politisch Anschluß verschaffen muß. Ob der Auftrag des Grundgesetzes zur gesellschaftliche Kohäsion zu „gleichwertigen“ Energie-, Erschließungs-, Mobilitätspreisen oder Internet-Flatrates u.ä. führen muß, um nachbarschaftliche Streitigkeiten zu vermeiden, bedarf sicher auch noch intensiver Diskussion.
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