Das Hochhaus als Sackgasse
Warum Europa keine Wolkenkratzer braucht
Damit klar wird, worum es geht: Es geht nicht um Extremverdichtungen über größere Flächen a la Manhattan; es geht nicht um die Frage nach nur 6, 10 oder 14 Geschossen; es geht auch nicht um locker in einen Park eingestreute Hochhäuser mit letztlich mäßigen Dichten. Zur Diskussion stehen "Wolkenkratzer" von 40 und mehr Stockwerken, 10 bis 50 mal so hoch wie breit, das Grundstück vollständig zugebaut (meist ein- bis dreigeschossig, mindestens mehrfach unterirdisch), einzeln stehend oder in kleinen Gruppen von zwei bis vier Kratzern.
Licht, Luft, Sonne gibt es oberhalb von vielleicht 30 m ohnehin nur noch gefiltert und aus zweiter Hand. Das kann man weiter unten billiger produzieren. Es bleibt der Blick auf Isartal und Alpen (bitte nach Wahl auch "Ostsee", "Teutoburger Wald" o.ä. einsetzen). Das ist, für die, die ihn haben, ja nun wirklich recht schön. Und solange nur recht wenige Schatten produzieren und den Blick in den Himmel versperren, könnte man das noch mit Humor und Toleranz nehmen, ohne gleich bierernst Egalite oder Demokratie Verständnis zu reklamieren - jedenfalls wenn man nicht gerade darunter wohnt oder arbeitet. Denn das Ganze geht natürlich zu Lasten derer, die unten bleiben.
Echte Freiflächen bleiben laut Definition auch nicht übrig. Künstliche aber kann man auch ohne Hochhäuser entwerfen: Straßen, Plätze, Passagen, Arkaden, Malls, Höfe, Terrassen. Dem Baum bleibt bei höheren Dichten ohnehin nur der mehr oder weniger komfortable und kaschierte Kübel.
Hohe Bebauungsdichten lassen sich allemal auch mit geringeren Bauhöhen erzielen; man denke zum Beispiel an die gern besuchte Innenstadt von Barcelona. Man nehme nur eines der einschlägigen Modelle von Hochhausprojekten (Foto genügt), lege in Gedanken den Wolkenkratzer flach und verteile seine Baumasse in etwa gleichmäßig auf die Gebäude der näheren Umgebung (abzüglich der Unmengen von umbautem Raum für Technik, Statik und Konstruktion, die durch das Flachlegen nun überflüssig werden). Der Effekt ist frappierend: Ein mäßig geschickter Architekt wird das so realisieren, daß man den Unterschied mit/ohne Wolkenkratzer kaum bemerkt.
Gemischte Nutzung oder Monofunktionalität - also übergroße Einzeleinheiten - sind ebenfalls ernsthafte Fragestellungen der städtebaulichen Planung. Denn die enge betriebswirtschaftliche Rationalität verführt alle Einrichtungen zum Wachstum. Die schiere Größe von Behörden, Universitäten, Konzernverwaltungen und sonstigen "Centern" erdrückt so schon heute die gewachsene oder notwendige Vielfalt von Stadtvierteln. Aber das ist keine Frage der Bauhöhe: Fünfgeschossige Langeweile wäre - vielleicht - schlimmer als fünziggeschossiger Thrill; andererseits könnten sich auch in einem Hochhaus Konzertsäle, Wohnungen, Bistros, Büros, Institute, Schwimmbäder und vieles andere in bunter Folge ablösen. Wenn auch mit ein paar Einschränkungen: Alles wird - baukostenbedingt - von der teuren Art sein und - bedingt durch einheitliche Planer und Verwalter nicht komplexer als deren Kopf. Trotzdem - auch die Forderung nach Nutzungsmischung spricht letztlich weder für noch gegen Wolkenkratzer.
Öffentlichkeit von Straßen und städtischem Umfeld ist ebenfalls zwingende Forderung, damit die urbane Vielfalt auch Früchte trägt. Nur dort erlebt man nämlich eine zufällige Stichprobe seiner Mitbürger, ohne Vorauswahl nach Alter, Nationalität oder sozialer Schichtung. Und man entzieht sich nicht der Anstrengung, auch selbst Mitbürger zu sein. Dazu gehören zwingend die Straße und der Platz mit dem Recht auf Gemeingebrauch und Sondernutzungen, der direkte Zugang dorthin, das Erlebnis der Nachbarschaft, der Blick aus dem Fenster, der Blick ins Fenster. Das Hochhaus aber kennt keine Nachbarschaft; es schneidet sie ab. Natürlich kann man auch im zweiten Stock abgeschnitten sein; im Wolkenkratzer aber hat man keine Chance. Ganz ohne Sozialromantik und auch ohne Blockwartperspektive: Die städtische Öffentlichkeit ist ebenso wertvoll wie empfindlich. Wieviele dürfen - oder wieweit darf man - sich ihr entziehen, ohne daß sie aufhört zu existieren? Das Hochhaus ist die Verführung dazu.
Schließlich stellt sich die Frage von Verkehr und Erreichbarkeit - schafft das Hochhaus tatsächlich Nähe? Wieviel Verkehrsaufwand erfordert die 50. Etage? Vertikaler Verkehr im Wolkenkratzer bedarf des Aufzugs - eines sehr eigentümlichen Verkehrsmittels. Die "Einzelkabine für 5 bis 20 Personen mit exklusivem Betonschacht im Pendelverkehr" ist unschlagbar aufwendig in Platz- und Energiebedarf, Bau- und Betriebskosten - zumal wenn es morgens nur rauf und abends nur runter gehen soll. Kein Mensch würde solche Pendelkabinen in horizontalen Tunneln konstruieren, z.B. von einer U-Bahn-Station sternförmig in die normalen Stadtviertel hinein. Vertikal geht es wohl nicht anders, und da verzeiht man der Pendelkabine ihren Widersinn. Auch wenn sie mit wachsender Höhe im Wolkenkratzer immer unsinniger wird. Einstweilen müssen wir uns damit abfinden, daß einem horizontalen Schritt von 80 cm Länge etwa ein vertikaler Schritt von 15 cm Höhe entspricht - vom Zeit- und Energieaufwand her; und die jeweiligen mechanischen Hilfen ändern dies Verhältnis kaum. Die Vertikale muß daher rund den Faktor 5 bekommen. Übrigens - auch unser Blickfeld hat ein Querformat mit einem Verhältnis von Höhe zu Breite von etwa 1:4 bis 1:6. Bauen wir doch Häuser, die diesem Maßstab entsprechen! Wir sind dem nämlich genetisch angepaßt: 500.000 Jahre hatte homo sapiens nur die Breite der ostafrikanischen Savanne und die Höhe der Bäume an ihrem Rande vor Augen. Nichts gegen Versuche, das evolutionäre Erbe zu durchbrechen. Auf Anhieb wüßte ich allerdings z.B. aus dem Bereich "Umgang mit Natur und Artgenossen" eine ganze Reihe von paläolithischen Erblasten, die den Schweiß zu ihrer Überwindung eher rechtfertigen würden als ausgerechnet der Bau von Wolkenkratzern.
Verkehrsvernetzungen innerhalb eines Gebäudes und zwischen den Einrichtungen der Stadt sollten ja bekanntlich in möglichst viele Richtungen existieren - zur Minimierung der Wege für all die vielfältigen Beziehungen. Nun ist aber der Wolkenkratzer im Verkehrsnetz vergleichbar einer riesigen Sackgasse von l km Länge - wenn man etwa 200 m Höhe mit dem Faktor 5 in die Horizontale umrechnet - mit einigen nebeneinanderliegenden Pendelkabinen als Erschließung. Da kann nun von notwendigen Quervernetzungen keine Rede sein; weder innerhalb des Hauses zwischen seinen verschiedenen Zimmern, noch in den Beziehungen in die Stadt hinein: Durchschnittlich wird so für die Hälfte aller Wege ein Umweg von 500 m notwendig. Es sind also nicht allein Aufzug und Höhenunterschied, die ungeheuren Aufwand erfordern; auch das Sackgassensystem der Erschließung produziert maximale Wege, maximalen Zeitaufwand und damit höchste Unwirtschaftlichkeit. Mit Recht findet man in keiner Stadt der Welt Sackgassen von l km Länge. Und wenn jemand das kontrollierte Tor am Eingang der Sackgasse für so wichtig hält: Bei niedrigen Anlagen wären weitere Tore zur Vermeidung von Umwegen wenigstens möglich. Beim normalen Wolkenkratzer fehlt völlig die verkehrliche Vernetzung, die der funktionalen Vernetzung einer Stadt mit einem großen Haus entspräche. Interessant könnte ein Erschließungssystem werden, wenn Hochhaussammlungen in der Höhe - vielleicht alle zehn Stockwerke - räumlich nach allen Seiten durch Baukörper vernetzt würden. Nicht das treppensteigende Auto, sondern die Magnetschwebetechnik mit dem Linearmotor könnte Horizontale und Vertikale ähnlich gut bewältigen. Wir sollten vielleicht bei Stadtneugründungen darauf zurückgreifen.
Die Schönheit allgemein kann es auch nicht sein, die zum Hochhausbau treibt. Denn unbestritten gibt es schöne Niedrighäuser genau wie schöne Hochhäuser. Ebenso wie natürlich auch jede Kategorie von Häßlichkeit in jeder Höhe zu haben ist.
Die spezifische Schönheit des Wolkenkratzers, sein Symbolgehalt muß es dann wohl sein. Und dann wird alles ganz einfach. An eindeutiger Zweideutigkeit nicht zu übertreffen, repräsentiert das Hochhaus ganz simpel maskulinen Herrschaftsanspruch in plumpester, arachaischster und primitivster Form. Repräsentation soll ja jedem Bauherren freigestellt sein und sicher auch in besonderer Weise den besonders einflußreichen Bauherren. Sie gehört originär zu Straße und Stadt. Das war immer so - von den griechischen Tempeln über die gotischen Burgen und Dome und die barocken Paläste bis - ja eben bis zu den Bankzentralen in Manhattan und ihren Epigonen überall in der Welt. Aber gerade diese Inflationierung des Wolkenkratzers hat seinen Symbolgehalt längst entwertet. Der dritte Aufguß würde zwar immer noch alles andere buchstäblich in den Schatten stellen. Er würde aber nicht mehr eindrucksvoll die Potenz der äußerst erfolgreichen Organisatoren der materiellen Versorgung beweisen, sondern nur noch peinliche Aufdringlichkeit und Einfallslosigkeit.
Die europäische Stadt ist dafür zu schade. Die Herrschaft des Geldes ist ja durchaus differenziert, hat sehr kultivierte und humane Aspekte. Diesen muß man sich nicht verschließen - aber sie bedürfen keiner exhibitionistischen Äußerungen. Auch die gute Show, die Selbstdarstellung mit Herz, Kultur und einer augenzwinkernden Sympathie für Anarchie hat seinen Platz in der europäischen Stadt. In dieser guten Tradition gibt es viele Möglichkeiten, "global city" zu sein. Macht und Geld zu zeigen. Der Bau von Wolkenkratzern trifft dabei etwa das Niveau von, nun sagen wir, Saskatoon, der Hauptstadt der kanadischen Prärie-Provinz Saskatchewan.
Manuskript
Kassel August 1997