Lokaler und Regionaler Vorrang für Ultra-Breitband Telematik

Neue Entwicklungsmöglichkeiten für Dienste, Infrastruktur und Siedlungsstruktur, 10.4.03

Die derzeitige Diskussion über die Zukunft der Telematik akzeptiert einige Annahmen als Axiome: Das Ziel weltweit gleichwertigen Zugangs, den derzeitigen Engpass der “Letzten Meile“, und eine allzu willkürliche Eingrenzung des Begriffes „Breitband“. Daraus folgert man, Entfernung spiele keine Rolle und müsse nicht zu höheren Preisen führen. Das hier vorgeschlagene Projekt soll die Telematik jenseits dieser Annahmen untersuchen; dort deuten sich (thesenhaft) folgende Möglichkeiten an:

1. Es könnten in nennenswertem Umfang Ideen und Nachfrage existieren für die Übertragung von höchst qualifizierten Informationen, die jenseits der heutigen Breitband-Definition eine 10 bis 1000 fache Ultra-Bandbreite erfordern.

2. Diese Nachfrage könnte ernste Kapazitätsengpässe im Fernnetz verursachen, die man durch Kostenzurechnung der Entfernung abfedern könnte: Bei gleicher Datenmenge würde die Nahübertragung billiger. (oder besser: die Vermeidung überlasteter Fern-Netzteile)

3. Die Folge wären relativ billige, hochqualifizierte Nah- bzw.Regionalverbindungen und eher teurere, datenärmere Fernverbindungen. In Zukunft sollte der Nutzer zwischen diesen Alternativen wählen können. Preise würden besser die Kosten und die tatsächliche Nachfrage der Nutzer (gemessen an ihrer Zahlungsbereitschaft!) widerspiegeln und damit besser auf zukünftige Investitionsschwerpunkte hinweisen.

4. Dagegen ist die räumliche Ubiquität der Erreichbarkeit nicht zwingend; verschiedene Standorte können durchaus zu verschiedenen Bedingungen angeschlossen werden. Das gesellschaftliche Ziel gleicher Zugangschancen für die Menschen würde nicht mehr verfälscht durch das Ziel der Gleichheit von Standorten, letzteres bedroht Ziele der ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit.

5. Daraus könnten sich neue Kriterien für die Architektur, die Standortwahl, sowie die Stadt-, Regional- und Landschaftsplanung ergeben.

Der gegenwärtig angestrebte globale Informationsaustausch mittlerer Qualität könnte so ergänzt werden durch eine große Vielfalt lokalen und regionalen Austauschs hochauflösender und verfeinerter Informationen. Vielfalt auf engem Raum würde die Kontinuität des kulturellen Erfolges Europas fortschreiben: So könnte „Lokaler und regionaler Vorrang für Ultra-Breitband-Telematik“ einer der wichtigsten Beiträge Europas für die zukünftige weltweite Informationsgesellschaft werden.

1. Situation

Derzeit fördert Telematik Gleichheit, Ubiquität und Globalisierung

Europas traditionelle Qualitäten und seine soziale und indivuelle Identität haben immer hocheffiziente Kommunikation beinhaltet. Technik, Infrastruktur und Regelungen hatten und haben dabei folgende Besonderheiten, die zu den wichtigsten Grundlagen von Europas wirtschaftlichem und kulturellem Erfolg gehören dürften:

  • Kurze Distanzen für persönlichen Kontakt innerhalb und zwischen dicht besiedelten Städten und Dörfern, sowie zwischen Städtenetzen und kleinteiligen Regionen.
  • Qualitativ hochwertige Kommunikation höchster Informationsdichte, wie zwischen Personen.
  • Reiche Vielfalt hochentwickelter Medien, Sprachen und Inhalte, fliessende Übergänge und halboffene Grenzen zwischen kleinteilig unterschiedlichen Teilräumen.

Die derzeitige I+K, Informations- und Kommunikationstechnik) hat diese Eigenschaften nicht, denn es mußten einige Randbedingungen berücksichtigt werden: Die letzte Meile musste drahtlos oder mit Kupfer-Doppeladern bewältigt werden, mit Kapazitätsgrenzen, die auch in Zukunft nur mittlere Qualität/Quantität erlauben werden. Diese Tatsache führte im digitalisierten Glasfaser-Fernnetz zu so gigantischen freien Kapazitäten, dass dafür Entfernung tatsächlich keine Rolle mehr spielte. Ausserdem war es für Nutzer, Manager und Ingenieure offenbar reizvoller, jedermann weltweit zu vernetzen, als die lokale oder regionale Qualität zu verbessern.

Schliesslich meinen sie etwas naiv das soziale Ziel der Gleichheit der Menschen zu fördern, indem sie ihnen gleichen Zugang zu den technischen Segnungen überall zum gleichen Pauschalpreis anbieten – auch an höchst unökonomischen und unökologischen Standorten und besonders in den immer noch fälschlich als ländlich bezeichneten Zersiedelungsstrukturen.

In der Folge fördern heute Technik, Betrieb und Ökonomie der Telekommunikationssysteme folgende Eigenschaften, die europäischen Traditionen und Zielsetzungen widersprechen:

  • Sehr große, globale Entfernungen, ohne Differenzierung nach Siedlungsstruktur.
  • Mittlere („komprimierte“) Qualität, mittlere Datenraten, wie etwa Sprache, email-Texte, gering auflösende Bilder, oder zeitversetzte Übertragung.
  • Gleichheit von Zugang, Standards, Benutzeroberflächen, Betriebssystemen, Qualität und Preis, auch bei sehr ungleichen Standortvoraussetzungen.

Obwohl dies nur eine von mehreren Lösungsmöglichkeiten wäre, werden diese Eigenschaften oft fälschlich als allgemeine, unvermeidbare Eigenschaft der elektronischen Telekommunikation als solche bezeichnet. So wird sie zu einem Schlüssel zur Globalisierung – gleichzeitig mit der Tendenz, lokale und regionale Identitäten, Eigenschaften und Zusammenhänge aufzulösen. Andere technische Optionen werden kaum diskutiert – wie der ganz offensichtliche Gedanke, daß auch in der Telekommunikation die größere Entfernung teurer ist. Das aber heißt, daß der derzeit interpretierte starke Zusammenhang zwischen Globalisierung und Telematik mindestens teilweise auf Mißverständnis und Fehlkalkulation beruht – und nicht auf physikalischen, technischen oder ökonomischen Fakten.

2. Ziele

Die Informationstechnologie soll so neu ausgerichtet werden, daß sie auch spezielle billige, attraktive Nutzungen im Nahbereich erlaubt. Technisch wirtschaftlich scheinen hierfür neue Ultra-Breitband-Dienste möglich und besonders geeignet.

Wichtigstes Ziel ist die Überprüfung, ob, welche, und wieweit Telematik nicht nur globale, sondern auch lokale und regionale Geschäfte, Tätigkeiten, Beziehungen und Identitäten verbessern könnte. Wo immer die Nahverbindungskosten geringer sind, sollte entsprechend der Preis niedriger oder die Qualität besser sein. Dann brauchen Telematikpreise nicht nur Datenmengen-, sondern auch Entfernungskomponenten. Das würde Kommunen und Regionen stärken und auch nahbereichsorientierte Bürger motivieren, privat und geschäftlich mehr Telematik zu nutzen.

Derzeit vermutet man, es sei ein Naturgesetz, daß Entfernung keine Kosten verursacht und gratis sein müsse – trotz einiger Netzüberlastungen und der Einschränkung des Begriffes „Breitband“ auf das, was eben äußerstenfalls die DSL-gedopte, datenkomprimierte drahtlose oder Kupfer-Doppelader-Letzte Meile zu leisten imstande ist. Aber es gibt Hinweise, daß darüber hinaus solche Dienste sinnvoll werden könnten, die 10-1000 Mal größere ultra-breitbandige Datenströme verursachen. Sie benötigen dann so gewaltige Kapazitäten, daß die Kosten wieder entfernungsempfindlich werden. Wenn das wirklich eine interessante Alternative ist, könnten zukünftige Telematik-Techniken, -Standards, und -Nutzergewohnheiten folgende für Europa besonders typische Eigenschaften enthalten:

  • Kurze Entfernungen mit Vorteilen in Qualität und Preis für städtische und ländliche Siedlungen im lokalen und regionalen Bereich.
  • Regionale Vielfalt und höchste Qualität wie etwa hochauflösende bewegte (Fernseh-) Bilder im Echtzeit-Dialog ohne Zeitverzögerung.

3. Forschungsansatz

Theoretische Forschung sollte neue Anwendungen, Regulierungen, Standards, sowie räumliche Verteilungsmuster in Szenarien und Machbarkeitsstudien entwickeln und bewerten.

Das Hauptproblem scheint die zukünftige Nachfrage nach bisher unbekannten oder unterschätzten Ultra-Breitband-Anwendungen zu sein, wenn sie lokal oder regional extrem billig wären:

  • Hochauflösender Video-Dialog in Echtzeit? Für Fernkonferenz, Fernberatung, Fernlernen, Fernmedizin, Fernbetreuung, Fernreparatur, Ferngeschwätz? Extrem billig und einfach für die trivialsten Zwecke? Mit den schönsten denkbaren bewegten Bildern?
  • Triviale Massendaten (ggf.auch zeitversetztt), wie dezentrale, flächen und zeitdeckende Überwachungs-, Kontroll- und Abrechnungsdienste? 24 Std.-WebCam zu Kindern und Alten? Mit Pulskontrolle? Road-und Park-Pricing im 5m/5sek-Rhythmus? Spieleparties der Teenager?
  • Ein Quantensprung in der PC-Rechenleistung durch ständiges Datenstreaming zum Regionalen Zentralrechner/-speicher? Für komplexe Gestaltungsaufgaben? Zur Individualisierung von Benutzeroberflächen, Betriebssystemen, Bildschirminterieurs und Avataren?

Zum Beispiel folgende Fragen könnten Forschungsgegenstand sein:

  • Wie könnte ein Preissystem aussehen, , daß neben Nachfrage, Kapazität, Datenmenge und Verwaltungskosten auch Elemente der Entfernung enhält?
  • Welche zukünftigen Investitionen in die Infrastruktur rechtfertigen sich wirklich aus der Zahlungbereitschaft der Nutzer?
  • Welche Konsequenzen sind für die Telematik Hardware und Software zu erwarten? Für Kameras? Für PC/TV-Geräte? Für die Heim-Laser-Projektion?
  • Wie werden sich die Telefon-, Fax-, SMS- und Email-Gewohnheiten verändern, wenn Datenmenge und Distanz spürbar in die Preise einfließen?
  • Welche Änderungen der Siedlungsstruktur im privaten, kommerziellen und öffentlichen Bereich werden durch die technische Umbewertung der Entfernung hervorgerufen werden? Wie werden sich Standortbewertungen, Bodenpreise und städtebauliche Entwürfe ändern?
  • Wird die neue räumlich Ordnung noch den alten Verwaltungsgrenzen folgen? Könnte ein neuer individueller Regionalismus entstehen – in der europäischen Tradition der Nähe, aber ohne harte geographische oder politische Grenzen?

Theoretische Forschung sollte Szenarien, Machbarkeitsstudien und Bewertungen erarbeiten – unter Einschluß von technischen, wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen politischen und räumlichen Bedingungen, Wirkungen, Chancen und Risiken auf kurze und längere Sicht. Umfang und Komplexität legt eher ein Pragramm als ein Projekt nahe. Dabei sollten auch verschiedene Pilotanwendungen mit empirischer Begleitforschung vorbereitet werden. Dies würde Infrastrukturinvestitionen, Anpassung von Hardware und Software, sowie voraussichtlich Ergänzungen oder Veränderungen internationaler Standards und Vereinbarungen beinhalten.

4. Notwendigkeit und Bedeutung

Billige, hochqualifizierte Nah-Kommunikation könnte beitragen zur nächsten globalen IT-Generation, zur europäischen und weltweiten Regionalisierung von Lebens und Siedlungsformen, und zur Führung in wichtigen Zukunftstechnologien.

Europa war in der IT-Entwicklung selten führend, sondern hat meist nur reagiert. Hier bietet sich die Chance, die speziellen europäischen Eigenschaften lokaler und regionaler Identität zur Grundlage eines weltweiten technischen Erneuerungsprozesses zu machen.

Die Ergebnisse werden als Zuasatzangebot mindestens für alle europäischen Kommunen, Regionen und Provinzen sowie für Europa insgesamt von grosser Bedeutung sein, selbst wenn die weltweite IT-Gesellschaft sie nicht umsetzen sollte. Dies ist aber unwahrscheinlich: denn Dezentralisierung und Differenzierung finden sich überall als Ziele, und scheitern meist an fehlender Technik.

Es gibt keine Hinweise darauf, daß die bisherigen Technologien und Gewohnheiten der globalen Telekommunikation beeinträchtigt würden. Das Konzept bietet Zusatzangebote an, noch dazu auch für Nutzergruppen, die eher regional orientiert und der IT-Nutzung skeptisch gegenüber standen. Darüberhinaus bieten Antworten auf Zukunftsfragen naturgemäss auch Chancen, auf den Hardware- und Software-Märkten der Zukunft industriell weltweit eine führende Rolle zu spielen.

Das deutet bereits ein sehr ehrgeiziges Ziel an. Darüberhinaus dürften aber nennenswerte Auswirkungen auf das räumliche Verhalten und die Siedlungsstruktur zu erwarten sein. Die europäische Stadt mit ihrer Dichte, Mischung, Öffentlichkeit von Räumen und Offenheit von Netzen war drei Jahrtausende lang ein Schlüssel zu Europas wirtschaftlichem, sozialem und kulturellen Erfolg. Hundert Jahre Transporttechnik für Güter und Personen schien das überflüssig zu machen. Nun scheint die technisch wirtschaftliche Rationalität des Informationstransportes eine überaus moderne Neuauflage dieses bedeutenden Erbes anzudeuten. Entgegen den gängigen Theorien über Verkehr und Telekommunikation würden sich die Entfernungen nicht einfach immer größer und die Siedlungsstruktur zu ungeordneter Beliebigkeit entwickeln. Vielmehr könnten sich ein differenziertes neues Gleichgewicht zwischen fern und nah, Netz und Hierarchie, Stadt und Land sowie den Gewohnheiten und Lebensstilen herausbilden. So könnte die europäische Siedlungsstrukur erneut einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Fortschritt der Menschheit leisten.

5. Beteiligte Disziplinen, Forschungsprogramm

Es sollten Technik, Ökonomie, Ökologie, Sozial- und Raumwissenschaften sowie verschiedene Regionstypen beteiligt werden. Die Ideen können in Form von Beratung oder als eigene Projekte oder Programme weiterentwickelt werden.

Das Programm erfordert keine Basisinnovation oder Grundlagenforschung. Alle Komponenten können sofort serienreif gemacht und angewandt werden – in innovativer Konstellation. Die größte Herausforderung wird die Integration nahezu aller wissenschaftlichen Disziplinen und europäischer Regionen sein. Die Forschungsaktivitäten würden beinhalten:

  • Analyse aller möglicherweise relevanten bestehenden oder geplanten Ansätze.
  • Theoriebildung über zukünftige Nachfrage, Ausprägungen, Lösungen und Szenarien, Varianten; einschließlich ihrer Machbarkeit, Bewertungen und Auswirkungen.
  • Anpassung und Anwendung von Ausrüstung und Betrieb der Ultra-Breitband-Technologien.
  • Szenarien für verschiedene Lösungen für verschiedene Anwendungsfälle.
  • Demonstration und Marketing bei Wissenschaft, Industrie, Politik und Öffentlichkeit.
  • Forschungskonzepte für empirische Anwendungsüberprüfungen.

Lokale oder Regionale Telematik kann als Diskussionsbeitrag in jedes Projekt eingebracht werden, das sich mit der Entwicklung von Räumen und/oder der Kommunikationstechnik befaßt. Ebenso kann ein eigenes Projekt bis hin zu einem mehrjährigen Großprogramm konzipiert werden. Öffentliche Förderung scheint dabei unverzichtbar; Industrieförderung kann erst in einem fortgeschritenen Projektstadium erwartet werden.