Nachhaltigkeit und Urbanität

Die Begriffe sind - weil allzu griffig - schon ein wenig abgegriffen. Von PR-Abteilungen diverser Interessengruppen zur Unkenntlichkeit aufgeblasen, will ich versuchen, sowohl dem Ganzen als auch dem teuflischen Detail einige unübliche Perspektiven zu entnehmen.

Urbanität als Lebensstil:

Erreichbarkeit und Infrastruktur, Streitfeld für Sozialverantwortung und Innovation

Europas Tradition ist die Nähe. Soziale Zusammenschlüsse bildeten Stadt und Dorf. Sie waren Garanten der Erreichbarkeit und Vielfalt, durch ihre Enge war der Mitbürger nah; ihre Lage am Verkehrsweg verknüpfte dazu die Städte untereinander. Die Nähe förderte Arbeitsteiligkeit, Sicherheit und Vertrauen - die Basis größerer Zusammenschlüsse wie Nationalstaaten oder Welthandelsorganisationen. Die Nähe erlaubte reiche gemeinschaftliche Einrichtungen - vom Stromnetz bis zum Opernhaus. Und schließlich bildete sich dort die Kultur im Widerstreit der Ideen. Technik und Religion, Kunst und Wissenschaft, kurz, jede Innovation der europäischen Geschichte wuchs im öffentlichen Streitfeld der europäischen Stadt.

Die "Provinz", das Land, die Vereinzelung brachte keinen Fortschritt, sondern nur Versorgung, Erholung und Ausgleich. Der Rückzug des Citoyens aufs Land, nach Tusculum, in die Englischen Gärten, ging einher mit dem Niedergang der Kulturen. Der Fortschritt der Kulturen, die Erneuerung kam von denen, die die Städte lebten. Das ging nicht konfliktfrei zu: Inquisition und Bürgerkrieg, Restauration und Revolution begleiteten die Städte. Vielleicht schaffen wir das in Zukunft unblutig; unverzichtbar ist aber die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit - und die braucht Gleichzeitigkeit aller Lebensbereiche, Teilnahme aller Gruppen, die Unentrinnbarkeit vor dem Mitbürger. Die Stadt ist unser vielgeübtes Streitfeld jeder Sozialverantwortung und Innovation. Nachhaltigkeit als gesellschaftspolitische Jahrhundertaufgabe wird uns mißlingen, wenn wir dieses Streitfeld aufgeben und in die scheinbare Konfliktfreiheit der Suburbanität flüchten. Politik hängt zwingend mit Polis zusammen.

Stadtplanung als Spielregel unverzichtbar:

Keine Urbanität in Dorf und Stadt ohne Dichte, ohne Mischung, ohne Öffentlichkeit von Straßenraum und Straßennetz

Niemand kann Urbanität garantieren. Aber alle Epochen und Regionen Europas haben eine Reihe von gemeinsamen baulichen, städtebaulichen Merkmalen dafür in ihren Siedlungen, Städten und Dörfern. Wir können sie aufgeben, wie Amerika mit Suburbia, Edge City und Central Business District, ihre Epigonen überall in der Welt und auch bei uns. Oder wir können uns einigen, die europäische Tradition weiterzuentwickeln, fortzusetzen.

Dichte Bebauung im Maßstab von 0,5 bis 5 qkm ist Voraussetzung für Nähe. Aber sie fordert auch: Jeder öffentliche Raum, jede Terrasse, jeder Park, jede Spielfläche muß gepflegt, bewahrt, verteidigt werden. Hilfsflächen (für Verkehr, Versorgung usw.) dürfen nur absolute Minimalmaße haben. Alle Bauflächen müssen hochwertig sein; Qualität statt Quantität steckt dem kostengünstigen Bauen enge Grenzen. Und schließlich benötigt der Güterumsatz unserer Zeit Flächen mit weniger Menschen: am besten liegen diese in Tiefgeschossen und Tiefgaragen oder den Dunkelzonen größerer Haustiefen. Dichte fordert schließlich hochwirksame soziale Organisation für überlagernde Nutzung - denn kreativ ist Menschendichte, nicht Häuserdichte. Städtisch ist damit die Schule, die abends Volkshochschule und in den Ferien Sommerakademie ist. Städtisch ist die Wohnstraße als verkehrsberuhigter Bereich, also Freifläche zu Zeiten ohne Autos; und städtisch sind Bus oder Straßenbahn ohne exklusiven Gleiskörper, sondern mit Telematik- Vorrang gemischt mit dem Autoverkehr.

Mischung der Funktionen wird so weiteres Planungsziel für Urbanität. Nicht aus mediterraner oder mediävaler Sentimentalität, sondern aus handfesten ökonomischen und ökologischen Gründen der Energie- und Ressourcenschonung; denn nur Mischung sorgt für gute Auslastung aller Einrichtungen und Infrastrukturen über Tag, Woche und Jahr. Das gilt für die Bücherei wie für den Laden, für den Tiefgaragenplatz wie für die S-Bahn-Haltestelle, für die Signalkreuzung, die Trafostation, den Abwasserkanal. Mischung im Fußgängermaßstab bedeutet aber Größenbeschränkung für alle Einrichtungen gleicher Art und gleicher Nutzungsstruktur auf Größen bei 100 bis 300 m.

Öffentlichkeit von Straßenraum schließlich heißt gegenseitige Teilnahme aller Bürger aneinander, heißt, daß der Rückzug in die Privatheit oder auch der Rückzug in eine Teilöffentlichkeit weniger Privilegierter nur begrenzt geduldet werden kann. Denn er bedeutet gleichzeitig Ausgrenzung anderer Gruppen, soziale Segregation, Ghettoisierung. Zu planen ist, daß sich alle Häuser auf die Straße beziehen, und daß alle Straßen Hausbezug haben. Deswegen ist die Blockbebauung der Gründerzeit so erfolgreich. Deswegen verbietet sich das Hochhaus, die Blocklänge über 300 m, die nach innen gewandte Burg ohne Fenster auf die Straße, die anbaufreie Straße, die Schnellstraße und oft auch die Umgehungsstraße.

Schließlich brauchen wir die Öffentlichkeit und Offenheit des Straßennetzes. Jede Sackgasse wendet sich von den Mitbürgern ab und bürdet ihnen gleichzeitig die Folgen des Umweges auf. Jede Sackgasse, die zu groß wird, erklärt jemanden zum Unerwünschten und Fremden: in sanfter Form, daß er nicht Anlieger sei; der nächste Schritt ist die Magnetkarte mit Videoüberwachung - von wem auch immer ausgestellt. Und die glitzerndste Mall wird antiurban, wenn der Privateigentümer - betriebswirtschaftlich völlig logisch - den Zugang an den Zustand der Kreditkarten koppelt. Demarkationslinien nach Kreditlinien würden unsere Städte genauso lahmen wie Mauern in Beirut, Sarajevo oder - hoffentlich nicht vergessen - viele Jahre lang Berlin.

Nachhaltiger Verkehr:

Beruhigung und Umfeldverbesserung, differenzierter ÖV, Sanfter Autoverkehr, Anlastung aller Verkehrskosten

Das Planungsrepertoire ist bekannt: Wohnstraßen und Geschäftsstraßen, Nebenstraßen und Hauptstraßen müssen als Umfeld der Bebauung, als Geh- und Radverbindung gestärkt werden. Die Verkehrsberuhigungsdebatte hat dazu einige schlechte und viele gute Beispiele geliefert, öffentlicher Verkehr ist ökonomisch und ökologisch, wenn er als Massenverkehr urbane Einheiten in Städten, zwischen Städten und zwischen kompakten Dörfern verbindet. Angepaßter Autoverkehr hat da mit Maßen auch Platz: mit deutlichen Tempo- und Beschleunigungslimits, mit allgemeinem Überholverbot, konkurrenzfrei, und mit sanften Verkehrsabläufen; selten und mit unterirdischen Parkplätzen.

Daher müssen hunderte von gedankenlos vergrößerten Straßenbaustandards heruntergefahren werden. Viele Vorschriften zum Auto müssen überdacht werden - vom Abstellprivileg auf öffentlichen Straßen über Stellplatz- und Autoerschließungsgebote in den Bauordnungen bis hin zum Bußgeldkatalog.

Auch die Anrechnung aller internen und externen Kosten und Schäden in den Verkehr ist überfällig; Beispiele wären die Übernahme der Unfallkosten der Verkehrsopfer aus der Krankenkasse in die Objekt-Haftpflicht des Fahrzeugs; der Abbau von Pendlerabschreibungen für das private Hobby, "draußen" zu wohnen; die Mineralölsteuererhöhung die Werte aller Umweltschäden und die Verzinsung und Abschreibung aller Haupt- und Fernstraßen; die Einrechnung von Rohstoff/Abfall- und Energiesteuern der Fahrzeuge selbst in die Jahressteuer. Dazu gehört aber auch der Zuschußabbau im Öffentlichen Verkehr, die tatsächliche Zurechnung der Straßenschäden zum Lkw-Verkehr und die Bezahlung aller Flughafenkosten (mit Folgeanlagen!) durch Start- und Landegebühren. Kostenwahrheit und Kostenzurechnung im Verkehr bedeutete Entlastungen des normalen Steuerzahlers und Sozialversicherungspflichtigen um gewaltige Größenordnungen. Grobe Schätzungen führen zu einer Verfünffachung der Individualverkehrskosten, sowie einer Verdoppelung von Güterverkehrs-, Luftverkehrs- und ÖPNV-Kosten.

Die Folge wäre, daß nicht knappe Mehrheitsbeschlüsse die Gesamtbevölkerung zu Verkehr zwingen, sondern daß die Entscheidung über Verkehr oder nicht der Freiheit des Einzelbürgers überlassen bliebe. Ein solcher Übergang zu Marktwirtschaft und individueller Freiheit dürfte dann deutlich weniger, deutlich effektiveren Verkehr zur Folge haben - natürlich nicht ohne sozialen Ausgleich, nicht ohne allmähliche Einführung über längere Anpassungszeiträume.

Ein wichtiger Anpassungsvorgang beträfe die Stadt-(Um-)Land-Beziehung: deren Verknüpfung muß und kann zurückgehen. Weder ist der Massenverkehr in der Dispersion, noch ist das Auto in der Urbanität massenhaft nachhaltig organisierbar. Damit werden sich andere Zeitverteilungen einspielen - statt Tagesrhythmus eher Wochen- und Monatsrhythmus; vielleicht wird die Stadtwohnung mit kindergerechtem, verkehrsberuhigten Umfeld gerade für den attraktiv, der eher Zeitmangel als Geldmangel hat; viel wird sich positiv verschieben. Auch deutet sich hier eine Versöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie an - in der konsequenten Anpassung des Verkehrs an Urbanität und Nachhaltigkeit.

Nachhaltige Techniken:

Sanfte Autotechnik und Tempolimit, Telematik und Entfernungskosten, Sanfte Energietechnik und Schadensbörse

Angepaßter Verkehr verlangt angepaßte Autos: völlig neu konstruiert mit elektronischer Begrenzung von Beschleunigung und Geschwindigkeit; abgerüstet nicht in der Größe, sondern in Gewicht und Leistung; mit den härtesten Umweltstandards, die technisch möglich sind, und zwar bei etwa 120 km/h Höchstgeschwindigkeit. Diese Autotechnik - gekoppelt mit gesellschaftlichen Spielregeln - produziert nur mehr die Hälfte aller Schäden. Sie kostet ein Drittel weniger und hat den gleichen Transportwert wie heute: denn das sanfte Auto ist zwar leichter und weniger dynamisch, aber eher größer als heute, damit es noch flexibler einsetzbar und ausgelastet ist. Nebenbei hat es glänzende Exportchancen, weil der Weltmarkt der Zukunft nicht die Konkurrenz bei 250 km/h ist, sondern die Spitzentechnik für langsamen Nutzverkehr im überfüllten Ballungsraum verlangen wird.

Sanfte Technik kann auch Telematik sein. Dazu darf sie dem Nutzer aber nicht durch falsche Pauschalierung vorgaukeln, Entfernung gäbe es kostenlos und Kapazitäten wären endlos. Denn natürlich sind dort - wie beim physischen Verkehr - schiere Distanz und vor allem die Anzahl von Schaltstellen und Knoten teuer. Telematik wird sanfter, wenn Organisation und Gebühren Nähe belohnen. Sanfte Energietechnik ist ein ähnlich weites Feld. Viel spricht dafür, daß eine nachhaltige Energiezukunft dreigeteilt ist: Niedrigwärme über dezentrale Geothermie, Prozeßenergie über solaren Wasserstoff und Straßenfahrzeuge noch sehr, sehr lange über fossile Brennstoffe. Das erfordert sehr viel Optimierungsarbeit; notwendige Nischen wie die Windkraft oder das Auto mit Wasserstoffzelle dürfen nicht von der beschriebenen Hauptrichtung ablenken.

Was immer aber die Techniker konstruieren wollen, müssen sie selbst daran messen, wie ihnen Rohstoffe, Energie und Abfall bilanziert in eine "echte" Gesamtkostenrechnung eingehen. Dazu ist die Ökosteuer nur bedingt geeignet. Zwar führt sie zu den richtigen Kosten; leider aber zu den falschen Einnahmen: plötzlich wird der Staat Hauptinteressent an Verschmutzung, weil er dadurch seine Einnahmen sichern muß. ökologisch scheint da erfolgversprechender etwa das Modell der Börse für handelbare Verschmutzungszertifikate; der Staat plafondiert dann nur, während alle Akteure sich sozusagen den negativen Kuchen meistbietend teilen. Derartige "soziale Techniken" erfordern ähnlichen Scharfsinn und ähnliche Innovation wie die klassischen "technischen Techniken". Aber auch soziale Techniken wachsen nur in der Stadt.

Nachhaltigkeit durch Urbanität:

Desurbanisierung als Irrweg, Reurbanisierung als notwendige Bedingung erfolgversprechender kultureller Evolution

Siedlungsform, Verkehr und einige Leittechniken prägen wesentlich die Kultur einer Epoche. Sie bestimmen die Chancen des Überlebens und die Qualitäten des Zusammenlebens. Zur Zeit pflegen wir einige höchst konfliktträchtige Techniken; Strategie der "Bewältigung" ist dabei das Auseinanderrücken der Siedlung, die Sub- und Desurbanisierung; Verkehr gibt uns die Illusion, die Konflikte existieren nicht mehr, wenn sie weiter weg, unschärfer, beziehungsloser erscheinen.

Was wir hier in vierzig Jahren an Städtischem abgebaut haben, ist aber keineswegs endgültig verloren. Noch haben wir kompakte Dörfer, Kleinstädte und Großstädte mit urbanem selbstbewußten Bürgertum, polis-fähig und politikfähig. Wir haben die Kenntnisse über die Urbanität; die Stadtplanung beschränkt sich nicht auf das Nachzeichnen von Fehlentwicklungen. Und wir haben einige gesetzliche Rahmenbedingungen, die hoffen lassen, daß der Verlust des Städtischen eine historische Episode bleiben wird.

Einige politische Konstellationen scheinen hier besonders problematisch. Da ist "die Wirtschaft", gewohnt, als Unternehmen aufzutreten. Der zwangsläufige Interessenkonflikt zu gesamtgesellschaftlicher Verantwortung könnte durch Stärkung von Kammern, Verbänden und Verbünden der Unternehmen gelockert werden; und diese könnten verstärkt Selbstbeschränkungsregularien entwickeln und mit der gleichen Intensität weltweit durchsetzen, wie sie es derzeit mit dem Verkauf der Produkte tun. Politiker könnten sich daran erinnern, daß sie nicht Berufsbeglücker von Teilkollektiven sind - vielleicht können wir sogar auf eine Renaissance der Politik hoffen. Und schließlich leidet Zukunftsfähigkeit hier nicht zuletzt daran, daß die letzte Unterschrift über alle wirtschaftlichen Entscheidungen einiger Größenordnung weit überwiegend bei weiblichen Mitbürgern über 70 Jahre liegt - Erbgesetzgebung und Demographie lassen daran keinen Zweifel. Dies ist ein historisch völlig neuer Tatbestand, ob z.B. stärkere und altersabhängig progressive Erbschaftsbesteuerung hier Verbesserungen verspricht, muß diskutiert werden.

Mit der Desurbanisierung erleben wir die Auflösung der Politik. Reurbanisierung ist natürlich keine Garantie; sie ist kaum mehr als eine Hoffnung. Aber einige Jahrtausende europäischer Kulturgeschichte sind Stadtgeschichte. Vielleicht ist überhaupt nur die Kultur der europäischen Urbanität genügend innovativ, um der Herausforderung "Nachhaltigkeit" zu begegnen. Nachhaltigkeit ist keine Aufgabe für die Natur, sondern für die Kultur, für die Einigungsfähigkeit der Menschen - der Prototyp einer politischen Aufgabe. Und noch einmal: "Polis" (= Stadt) und Politik sind im Wortsinn identisch und untrennbar verbunden.


nach: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.)

Stadt mit Zukunft: energiebewußt und urban.

Dokumentation des 6. Forums der Landeszentrale für politische Bildung, 21. - 23. März

1996 • Haus auf der Alb, Bad Urach.

Bad Urach / Stuttgart 1997