Gibt es eine Beziehung zwischen Urbanität und Nachhaltigkeit?

Streitfeld und Ideenpool

Städte sind die Träger der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Europas. Ihre Urbanität ist eine notwendige Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensform: zum einen, weil nur Urbanität höchste Erreichbarkeiten bei geringstem Energieverbrauch ermöglicht. Zum anderen, weil die Urbanität das klassische Streitfeld ist, auf dem alle historischen Konflikte Europas ausgetragen wurden. Ein Plädoyer für mehr Urbanität.

Das heutige Wachstum in Richtung "Unstadt" scheint vordergründig unvermeidbar. Zuwanderung, Wirtschaftszentralisierung und Weltmarkt lassen unseren Hunger nach Bruttogeschoßfläche wachsen – nur selten gebremst durch konjunkturelle Beulen. Dabei bestehen die Geld sammelnden und verteilenden "Investoren" auf Simpel-("Lean"-)Management: Vier Blocks am Stück, möglichst mit nur einer Nutzung, sonst macht die Vermarktungsabteilung nicht mit. Kostensparendes Bauen artet aus in erdgeschossige Pappbauweise, also Quantität statt Qualität. Baulandbeschaffung gilt als erfolgreiche Baulandpolitik. Und sollte der Platz zum Bauen doch noch knapp werden, gibt es mancherorts den politisch wohlfeilen "Eigenbedarf", sprich den Schnitt zwischen "Wir" und "die Fremden". Vergessen ist die Pflicht zur Öffentlichkeit. Der (Stadt-) Rand lockt sowohl den Schutz der Nähe zur Stadt, als auch die Freiheit der Distanz. Einlösbar sind diese Versprechen beide nicht.

Eingeschossige Häuser mit Parkplätzen - als in sich geschlossene Logik für Wohnen und Arbeiten, für Kultur und Dienstleistung, für Freizeit und Bildung. Fast unentrinnbar sind dann die Folgen dieser Entwicklung: Statt Öffentlichkeit gibt es Elektrozaun, Videoüberwachung, Privatpolizei und Kreditkartenkontrolle am Zugang des Quartiers (wie heute schon in der Mall!). Und Erreichbarkeiten gibt es nur noch um den Preis dreistündigen Autosteuerns pro Tag. Selbst für eine reiche Gesellschaft ist es ein ökonomischer Wahnsinn, ein Viertel ihrer konzentrationsfähigen (Arbeits-)Zeit völlig unproduktiv und subaltern mit der Bedienung der Hilfsmaschine Auto zu verschwenden. Dazu kommen alle Konsequenzen für die globale und lokale Umwelt. Und die Ghettoisierung des Reichtums verlangt dafür dann demnächst die gepanzerte Limousine.

Gärtnerische Subsistenzwirtschaft im schwäbischen Eigenheim?

Ein Leben mit Zielen der Nachhaltigkeit am Ballungsrand wäre auch denkbär - aber nur in einer Gesellschaft, die extrem geringe Mobilität realisiert. Mobilität würde äußerst teuer, müßte raffinierte Fahrpläne einhalten und wäre auf das Auto angewiesen. Stoffkreisläufe müßten Arbeitsteiligkeit einschränken - denn die dünne Besiedelung erlaubte keine hohe Differenzierung bei gleichzeitig geringen Entfernungen. Große, weiträumige Verbünde zur Lebenssicherung wären eher schlecht angebunden. Schnelle Krisenkommunikation wäre auf das Telefon und seine Derivate angewiesen. Alles in allem ist dieses Szenario eine ziemlich abenteuerliche Vorstellung. Auch wenn die beschriebenen Teile leidlich funktionieren mögen - ökologischer, kultureller, sozialer Fortschritt dürfte sich dort wohl kaum mehr abspielen.

Nein, Eigenheimsiedlung am Stadt- oder Dorfrand ist eher für Mitbürger, die sich gern viel zu Hause aufhalten und die Reibung des Fortschritts meiden. Das mag angehen für bestimmte Lebensstile, bestimmte Lebensphasen oder völlig andere Lebensrythmen. Undenkbar ist es als allgemeine Basis für tägliches Stadtpendeln - so wie Amerika es versucht. Materieller und persönlicher Austausch bedarf so zwangsläufig höchster Energiezufuhr.

Stadt und Umland - Freundschaftliche Distanz statt neuer Liebe!

Ob es das Land im klassischen Sinn überhaupt noch gibt, mag dahingestellt sein. Früher nur Lieferant von Brot und Soldaten für die Residenz, hat das Stadt-Land Verhältnis über Jahrhunderte alle Strukturen, Romantizismen und Legenden durchlebt, die eine enge Beziehung ausmachen . Heute ist ihre Beziehung enger denn je aber völlig anders: regionale Tagespendlerentfernungen von 100 oder 150 Kilometern im Beruf, in der Ausbildung und Freizeit stellen an Schädlichkeit selbst die großräumigen Güterverkehre in den Schatten. Eine kulturell rückständige Landbevölkerung dagegen gibt es nicht mehr.

Wenn der vielerorts geforderte Regionalismus weiträumige Güterströme überschaubar machen soll, kann das hilfreich sein. Bilanziert müßte aber auch werden, daß die Ökonomie der Spezialisierung und Entfernung nicht immer nur Schadensexternalisierung bedeutet: manchmal rationalisiert sie wirklich, und reduziert trotz großer Entfernung tatsächlich Aufwand und Abfall, Rohstoff- und Energieverbrauch. Oder sie importiert in Agrarprodukten gespeicherte Sonnenenergie mit positiver Gesamtbilanz.

Wenn ein neuer Regionalismus aber die Verkehre zwischen Zentrum und Siedlung verbessern will, dann muß man gleich einwenden: Das geht nur zwischen den Siedlungsschwerpunkten in Stadt und Umland. Die disperse Struktur dagegen ist weder mit dem motorisierten Individualverkehr noch mit dem öffentlichen Nahverkehr anzubinden. Der Bus führe im Außenbereich leer und damit ökonomisch und ökologisch unvertretbar; das Auto aber ist im Siedlungskern nicht integrierbar. Da hilft kein Management, kein Park & Ride System, keine Bevorzugung des Öffentlichen Verkehrs. Das Stadtrandhäuschen und sein Pendant, der Konsumschlauch Fußgängerzone, stehen vor der Scheidung.

Die Beziehungen sollten in Zukunft ganz woanders liegen: an die Stelle der Stadt-Umland Bevölkerung tritt eine hochmobile, interurbane Bevölkerung, die viele urbane Kerne von Städten und Dörfern auch über große Entfernungen nutzt. Daneben gibt es am Stadt- und am Dorfrand die Bewohner des suburbanen Autolandes - und die bleiben meist zu Hause, weil die Schäden des Autoverkehrs höchste Autokosten verursachen würden. Die Konfliktlinie trennt also nicht Stadt und Land, sondern die Kerne von Stadt und Land von den dispers bebauten Rändern der Städte und Dörfer

Der beiläufige Reichtum beiläufiger Erreichbarkeit

Primäre Gewinne urbaner Wahlfreiheit liegen in der Vielfalt und selbstverständlichen Nähe alltäglicher Verrichtungen. Der Bedarf nach Semmeln und Heftklammem erfordert keine Autofahrt - wie heute in der Vorstadt. Entscheidender Mobilitätsvorteil aber ist der leistungsfähige Massenverkehr. Nur dichte Bebauung um die Haltestelle sichert genügend Fahrgäste, nur kleinteilige urbane Mischung ermöglicht ausreichende Angebote im Tages- und Wochenverlauf und entsprechend gleichmäßige Auslastung. Hocheffizienter Transport verlangt Zusammenfassung in großen Behältnissen - nur Massenverkehr hat gute ökonomische und ökologische Wirkungsgrade.

Der Personenverkehr mit seinen extrem hohen Pkw-Anteilen mit geringsten Besetzungsgrad hat dabei das mit Abstand größte Verbesserungspotential. Güterverkehrsoptimierung wirkt dagegen wie ein Ablenkungsmanöver; sicher nicht ohne Effekt, aber deutlich überbetont. Lkw's sind schon heute Nutzfahrzeuge mit besten Wirkungsgraden! Übertragen etwa auf das Leistungsgewicht kann ein Lkw-Hersteller über die Forderung nach einem Drei-Liter-Auto nur müde lächeln: Er ist seit vielen Jahren Dimensionen besser. (Und hat übrigens auch gelernt, daß Geschwindigkeitsbeschränkungen das System nicht kollabieren lassen, sondern verbessern!)

Urbanität: kreatives Streitfeld

Weniger Verkehr, höhere Erreichbarkeit, geringere Kosten und geringere Umweltschäden - das mag ja recht nett sein, reicht aber nicht für ein globales Siedlungskonzept "Nachhaltigkeit". Hierüber müssen wir nachdenken: Ohne Hoffnung auf die Patentlösung, aber mit aller Kenntnis und Sorgfalt, mit aller Anstrengung, deren unsere Kultur fähig ist.

Bei dieser Aufgabe dürfen wir nicht vergessen, daß die Entwicklung gesellschaftlicher Überlebenstechniken in Europa immer städtische Wurzeln hatten. Die Stadtidee Europas hat eine dreitausendjährige Erfolgsstory als Schauplatz und Katalysator einer beispiellosen ökonomischen und kulturellen, aber auch ökologischen und vor allem sozialen und politischen Entwicklung. Ihre konstituierenden Merkmale - in der Großstadt, der Kleinstadt und auch dem urbanen Dorf – sind Dichte, Mischung und Öffentlichkeit des Straßenraumes, als Garanten höchster Erreichbarkeit und Wahlfreiheit.

Die Urbanität wird heute durch vielfältige Individualismen bedroht; insbesondere der motorisierte Individualverkehr erweckt die Illusion, wir kämen ohne Stadt aus; wir könnten uns diesem Konfliktfeld entziehen. Angesichts der historischen Aufgabe "soziale und ökologische Nachhaltigkeit" scheint es unvertretbar, auf die Urbanität als Europas klassischer Konfliktlösungsstrategie zu verzichten. Wir brauchen Urbanität dringender denn je, sowohl als Streitfeld wie auch als Ideenpool für die Zukunft.

Nicht von ungefähr kommt "Politik" von "Polis" = die Stadt. Nachhaltigkeit und Ökologie aber sind in höchstem Maße soziale, politische Aufgabenstellungen. Niemand zweifelt ernsthaft an der Überlebensfähigkeit der Natur. Wo aber die ökologischen Nischen für die Menschengesellschaften liegen, das muß politisch erkämpft werden. Wer sich der Stadt entzieht, verweigert sich der Politik. Diese Abstinenz funktioniert aber nur in engen Grenzen.

Die Kämpfe Europas waren nicht immer unblutig. Revolution und Inquisition, Seuchen und Kriege kamen aus den Städten. In den Städten liegen aber ebenso die Wurzeln des Humanismus. Die Abstimmungsrituale für Mehrheitsfindungen, die Ansätze von Demokratie, die kleinen Inseln von Emanzipation und Aufklärung, auch die Ideen zu nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsformen entstanden und entstehen im Verbund von Menschen in Städten und Dörfern europäischer Siedlungstradition. Internet und Verkehrssysteme sollen uns gelegentlich vermuten lassen, der Raumbezug des Menschen sei überflüssig, er brauche keine Heimat, er könne die Umwelt, wenn sie ihm denn nicht mehr taugt, wechseln. Die Ganzheitlichkeit der Gesellschaft wird bei dieser Sichtweite ebenso geleugnet, wie die Endlichkeit der Umwelten, wie auch die Kosten und Grenzen der Systeme der Raumüberwindung.

Stadt und Dorf sind unverzichtbare Bedingungen für Zukunftspolitik. Urbanität allein ist keine Überlebensgarantie. Aber in der Suburbanität scheinen unsere Chancen minimal.





in: Politische Ökonomie, Heft 44

Januar/Februar 1996