Vorschläge für eine Verkehrsreform
für ökonomische, ökologische und städtebauliche Effizienz

Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung SRL e.V.

Prof. Dr.-Ing. Hans-Henning von Winning

November 1999


Die Ordnung von Raum, Siedlung, Landschaft und Verkehrswesen hat über Jahrtausende die Mobilität und Erreichbarkeit gewährleistet, die die europäische Entwicklung maßgeblich ermöglichte. Heute dagegen beeinflusst die Verfassung des Verkehrswesens in der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union die Verkehrsentscheidungen der Bürger so, daß sie in der Summe ihren eigenen verkehrspolitischen, städtebaulichen, wirtschafts- und umweltpolitischen Zielen widersprechen: Es entsteht zu viel Verkehr bei sinkender Mobilität und Erreichbarkeit, und die freie Wahl von Standorten, Siedlungsformen, Zielen, Verkehrsmitteln, Wegen und Geschwindigkeiten erfolgt nicht ausreichend effizient, kosten- und flächensparend sowie sozial- und umweltverträglich. Zur Änderung dieser Rahmenbedingungen werden daher folgende Programme vorgeschlagen, die verstärkt in Forschung, Öffentlichkeitsarbeit und Politikvorbereitung der Bundesregierung berücksichtigt werden sollten.


1. Programmvorschlag Kostenwahrheit und Marktwirtschaft im Verkehrswesen

Transparenz und individuelle Zurechnung von Kosten und Lasten müssen geschaffen werden, damit individuelle Verkehrs- und Standortentscheidungen ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig getroffen werden können. Dazu gehören:

  • Transparenz für alle direkten, sozialen und ökologischen Kosten und Lasten. Klare und detaillierte Offenlegung von Gewinner- und Verlierergruppen.

  • Schrittweise Zurechnung der Kosten an die individuellen Nutzer und Verursacher. Weniger Pauschalierung über Gruppen (z.B. "Autofahrer", "Steuerzahler", "Kunden" usw.)

  • Besondere Berücksichtigung von betriebswirtschaftlich korrekten Verzinsungen und Abschreibungen auch aller bestehenden Infrastrukturen.

  • Besondere Differenzierung der Kosten nach Geschwindigkeiten, Siedlungsstrukturen und Flächenverbrauch.
     

    2. Programmvorschlag Kostendämpfung und Flächeneinsparung bei Standards

    Technische Richtlinien, Normen, Verordnungen und Gesetze müssen erneuert, integriert und relativiert werden. Erst dann wird Bürgern und Verkehrsteilnehmern Verschwendung nicht mehr als scheinbare technische Notwendigkeit vorgeschrieben. Dazu gehören:

  • Verringerung und Plafondierung der Verkehrsetats, schrittweise auf zwei Drittel der heutigen Niveaus unter der Maßgabe vorgeschriebener Mindestleistungen.

  • Stadt- und landschaftsverträgliche Technikstandards für angepasste und systemabhängig optimale statt maximale Geschwindigkeiten und Dynamiken.

  • Unterschiedliche Standards für dicht-urbane und dispers-suburbane Verkehrsanlagen.

  • Besondere Überarbeitung der Vorhaben des Bundesverkehrswegeplanes sowie der sogenannten "Verkehrsprojekte Deutsche Einheit".
     

    3. Programmvorschlag Flächen-ÖV und Vorrang-ÖV

    Der öffentliche Verkehr muß insgesamt stärker und nach neueren Differenzierungen gefördert werden. Dazu gehören:

  • Zeit- und flächendeckende Basisversorgung (Flächen-ÖV); gleichzeitig deutliche Angebotsvorteile zur Verknüpfung ÖV-affiner Siedlungsstrukturen (Vorrang-ÖV).

  • Bundes- und europaweite Netz-, Knoten-, Takt-, Tarif-, Informations- und Management- Integration von Bahn, Bus, Flugzeug sowie von Nah-, Regional- und Fernverkehr.

  • Telematikeinsatz im Verkehrswesen konzentriert auf ÖV-Vorrang im Straßenverkehr, Betriebsoptimierung, Personenlogistik, Kundeninformation.

  • Städtebauliche Einbindung von Infrastrukturen für Busse, Straßenbahnen und Bahnen, z.B. Aufwertungsprogramm "6000 Kleine Bahnhöfe".
     

    4. Programmvorschlag Kultivierung des Autoverkehrs durch Konkurrenzfreiheit

    Der motorisierte Individualverkehr muß deutlich preiswerter, effizienter und verträglicher organisiert werden. Dazu gehören:

  • Regelungen gegen unproduktive Dynamiken und Konkurrenzen: Allgemeines Überhol-verbot auf der Gegenfahrbahn; Tempo vereinheitlicht 30/50 (innerorts) und 90 zwei-spurig/ 90-120 mehrspurig (außerorts). Beschleunigungen vereinheitlicht.

  • Technische Tempo-, Drehzahl- und Beschleunigungsregler im Fahrzeug vorgeschrieben.

  • Starke Verringerung von Verbrauchs- und Emissionsstandards im Rahmen der neuen Möglichkeiten, die die Konkurrenzfreiheit eröffnet.

  • Flächendeckendes, nach Lage, Zeit, Kosten und Fahrzeug gestaffeltes Road- und Park-Pricing; datengeschütztes Telematik-Inkasso für in- und ausländische Fahrzeuge.
     

    5. Programmvorschlag Nahmobilität durch Stadt- und Regionalplanung

    Die Verkehrsreform wird die Nachfrage nach Neubauten auf dichte und gemischte Bebau-ung, vorwiegend an Altstandorten mit hochleistungsfähiger ÖV-Anbindung und höchsten Erreichbarkeiten im Fußgänger und Radverkehr verlagern. Dazu gehören:

  • Verträgliche und effiziente Anpassung und Integration von Infrastruktur und Betrieb aller Verkehrsmittel in dichte und gemischte Siedlungsstrukturen.

  • Neuformulierung, Weiterentwicklung und Diversifizierung der europäischen Städtebau-traditionen in Planung und Forschung im Hinblick auf Erreichbarkeit, Dichte, Mischung, Öffentlichkeit von Straßenräumen und Umfeldqualitäten.

  • Weiterentwicklung von Raumordnungsvorstellungen: Von baumförmig verknüpften Zentrenhierarchien zur Unterscheidung von urbanen und suburbanen Netzen entspre-chend der Nachhaltigkeit der Techniken zur Entfernungsüberbrückung.
     

    6. Programmvorschlag Dezentralisierung von Verkehrsverwaltung und -forschung

    Die Verkehrsreform muß durch eine Reform der Verwaltung und Forschung angeregt, begleitet und vervollständigt werden. Dazu gehören:

  • Kommunale Zuordnung aller Innerortsteile, Länderzuordnung aller Außerortsteile der Verkehrsinfrastrukturen. Einheit von Finanzhoheit sowie Fach-, Dienst- und Rechts-aufsicht. Föderative Koordination.

  • Für ortsfeste Monopole (z.B. Straßen- und Schienennetze, Flughäfen u.a.) kein hoheit-licher oder privatwirtschaftlicher Betrieb, sondern gemeinwirtschaftlicher Betrieb mit vollständig offener Rechnungslegung.

  • Breite Verteilung der Forschungsmittel „Verkehr“ auf Städtebau und andere Ressorts und Disziplinen sowie auf länder- und kommunal getragene Organisationen.

  • Unterstützung der Konkurrenz von Technikstandards auf europäischer Ebene.